Das Kruckenkreuz


Die große Zahl von Dokumentationen, die gegenwärtig den „Anschluß“ Österreichs im März 1938 thematisieren, entreißen auch ein Symbol der Vergessenheit, das im „Europäischen Bürgerkrieg“ zwar nur eine Nebenrolle gespielt hat, aber doch nicht ganz bedeutungslos war: das Kruckenkreuz. Dabei handelt es sich um ein griechisches Kreuz mit Querbalken an den Enden. Das Motiv kann bis zu Steingravuren der Jungsteinzeit zurückverfolgt werden. Seine eigentliche Etablierung erfolgte allerdings erst mit Ausbreitung des Christentums. Die bekannteste Verwendung dürfte die im sogenannten Jerusalemkreuz gewesen sein. Dabei handelte es sich um ein goldenes (später auch rotes) Kruckenkreuz auf weißem Grund, in dessen Winkel vier kleinere goldene (später auch rote) Kreuze gesetzt waren. Der Sage nach hatte es zuerst Gottfried von Bouillon als Wappen des Königreichs Jerusalem gedient. Ein Kruckenkreuz findet sich außerdem als Marke auf dem „Reichsschwert“ des Heiligen Römischen Reiches und verschiedentlich als Muster für die Gestaltung mittelalterlicher Altarkreuze, so auch des „Reichskreuzes“.

 

Diese Traditionen erklären hinreichend, warum das Kruckenkreuz in moderner Zeit vor allem von Bewegungen verwendet wurde, die eine Rückbesinnung auf das christlich-abendländische Erbe anstrebten. Das galt und gilt für Frankreich, Spanien und Portugal, aber vor allem für Österreich nach dem Zusammenbruch der Monarchie. So gab schon der aus dem politischen Katholizismus kommende Ignaz Seipel als Bundeskanzler dem Großen Ehrenzeichen der Ersten Republik die Form eines Kruckenkreuzes. Außerdem wurde es seit 1922 als Emblem auf der Rückseite mehrerer Münzen angebracht. 1933 wählte dann Engelbert Dollfuß das Kruckenkreuz als Abzeichen der von ihm gebildeten „Vaterländischen Front“ (VF), einer autoritären Sammlungsbewegung, die ab 1934 zur Staatspartei des „Ständestaates“ wurde, der an die Stelle der parlamentarischen Republik getreten war. Die VF verwendete das Kruckenkreuz in zahlreichen Varianten als Emblem wie als Auszeichnung. Sie führte außerdem Flaggen in den „Babenberger Farben“ Rot-Weiß-Rot. Den Mittelstreifen erweiterte man zum Kreis, auf den ein rot gerändertes weißes Kruckenkreuz aufgelegt war; später fügte man auf der Mastseite noch einen grünen „Sparren“ hinzu. Ab dem 30. Oktober 1936 wurden die Flaggen der VF im Inneren der Staatsflagge Österreichs gleichgestellt.

 


Die Zielsetzung des Ständestaates, den deutschen Charakter Österreichs ebenso zu erhalten wie die Unabhängigkeit gegenüber dem nationalsozialistischen Nachbarn scheiterte. Das „Martyrium“ Dollfuß’, der 1934 einem nationalsozialistischen Putschversuch zum Opfer fiel, war zuletzt ebenso vergeblich wie die Versuche der VF, die Propaganda der Konkurrenz zwar äußerlich zu kopieren, samt Uniformierung, Gruß und Kampfgesängen, aber inhaltlich zu verändern. Auch die symbolpublizistische Wirkung des Kruckenkreuzes war ungleich geringer als die des Hakenkreuzes der in die Illegalität gedrängten Nationalsozialisten. Das kam sogar im Fehlschlag des Bemühens zum Ausdruck, die überall an den Wänden in Österreich zu findenden Hakenkreuz-Sgraffiti dadurch zu neutralisieren, daß man sie mit vier Strichen in Kruckenkreuz „ummalte“.

 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das Kruckenkreuz nur im traditionellen Katholizismus eine gewisse Bedeutung behalten, etwa in der christlichen Pfadfinderbewegung Frankreichs (Scouts de France) oder in integristischen Zirkeln Spaniens. Das änderte sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, der in Ostmittel- und Osteuropa zur Renaissance des Nationalismus führte, der alle möglichen „freigewordenen“ Symbole wiederbelebte. Dazu gehörte auch das Kruckenkreuz, das etwa die UNA – UNSO, die „Ukrainische Nationalversammlung“ – „Ukrainische Selbstverteidigungskräfte“ verwendet. Diese 1990 gegründete Formation tritt äußerst militant auf und gehörte nicht nur zu den Kräften des „Rechten Sektors“ während der Aufstandsbewegung vom Frühjahr 2014 in der Ukraine, sondern hatte schon im Tschetschenienkrieg an der Seite der Rebellen gegen die russische Armee gekämpft. Die UNA - UNSO führt ein schwarzes Kruckenkreuz auf rotem Grund; in der Mitte findet sich das ukrainische Wappen - der "Tryzub" -, die Querbalken zeigen die Anfangsbuchstaben der Organisation in kyrillischer Schrift.