Die kleinen Katzen der Normandie


Rekonstruktion eines normannischen Banners auf der Festung von Falaise, Normandie, 2020
Rekonstruktion eines normannischen Banners auf der Festung von Falaise, Normandie, 2020

In der sehr sehenswerten Ausstellung „Die Normannen“, die das Reiss-Engelhorn-Museum (Mannheim) noch bis zum Ende des Monats zeigt, wird auch eine ganze Reihe von Filmen mit Reenactment-Szenen vorgeführt. Darunter ist einer, der die Schlacht bei Hastings 1066 thematisiert, in der Wilhelm der Bastard, später „der Eroberer“, Herzog der Normandie, den angelsächsischen König Harold Godwinson besiegte und damit ganz England in seine Gewalt brachte. Irritierenderweise hat bei der Abnahme des Streifens niemand die Macher auf einen Anachronismus hingewiesen: das Wappenbanner der Normandie mit zwei schreitenden goldenen Löwen auf rotem Feld, das mehrfach hinter Wilhelm ins Bild kommt. Da es Wappen im genauen Sinn erst seit dem 12. Jahrhundert gibt, konnte Wilhelm ein solches Feldzeichen nicht verwendet haben. Bezeichnenderweise taucht es auch nirgends auf dem berühmten Teppich von Bayeux auf, der Wilhelms Feldzug thematisiert.

 

Tatsächlich liegt der Ursprung des normannischen Löwensymbols gar nicht in der Normandie. Vielmehr geht es auf das Schildzeichen Gottfrieds V. von Anjou zurück, dessen Nachfahren es gelang, die Dynastie Wilhelms in der Normandie und später auch in England abzulösen. Die kostbare Emailplatte auf dem Grab Gottfrieds in der Kathedrale von Mans zeigt jedenfalls einen Gerüsteten mit einem fast den ganzen Körper schützenden Schild. Der ist mit aufgerichteten – „steigenden“ – goldenen Löwen auf blauem Feld versehen, im Verhältnis 4 : 2 : 2 gestellt. Anordnung wie Farbgebung erinnern sicher nicht zufällig an das Wappen der französischen Könige (ein blauer Schild mit goldenen heraldischen Lilien) und wurde in der Familie Gottfrieds offenbar noch längere Zeit verwendet. Dafür spricht vor allem die Figur auf dem Grab von Wilhelm Langschwert – William Longespée -, einem der Nachkommen Gottfrieds, in der Kathedrale von Salisbury.


Wilhelm Langschwert war ein unehelicher Sohn Heinrichs II., der als erster aus dem Hause Anjou (oder Plantagenet) das „Angevinische“ Reich beiderseits des Kanals regierte. Welches Wappen er verwendete, wissen wir nicht. Die Annahme, daß es einen oder zwei gegeneinander gekehrte „steigende“ Löwen (unbekannter Farbe auf einem Schild unbekannter Farbe) zeigte, bleibt Spekulation. Begründet ist sie lediglich durch ein Siegel seines Sohnes und Erben Richards I., genannt „Löwenherz“, das eine Hälfte eines Schildes abbildete, auf dem ein entsprechender Löwe zu sehen war. Auf festerem Grund steht man erst mit dem seit 1198 benutzten Großen Siegel Richards, das den König zu Pferd zeigte, mit einem Schild, darauf drei schreitende Löwen – „the three lions“ -, die bis heute das Wappen der englischen Könige darstellen.

 

Die Gestaltung der Raubtiere als heraldische „Leoparden“, das heißt als Löwen, die dem Betrachter den Kopf zuwenden, war ursprünglich ohne Bedeutung. Den Ausschlag für die zahllosen Löwenwappen des Mittelalters gab die Vorstellung vom – mächtigen, aber auch barmherzigen -  „König der Tiere“, der gleichzeitig als Symbol Christi galt und insofern geeignet schien, das Ideal des Rittertums zu verkörpern. Womit allerdings noch nicht geklärt ist, warum es neben dem englischen Wappen mit drei ein normannisches mit zwei Löwen gegeben haben soll.

 

Im wesentlichen sind drei Theorien in Umlauf: Die erste besagt, daß die wichtigsten Teile des Angevinischen Reiches heraldisch repräsentiert wurden durch einen Löwen für Aquitanien, zwei Löwen für die Normandie, drei Löwen für England; der zweiten zu Folge hat man das normannische Wappen durch „Minderung“ aus dem englischen abgeleitet; während die Anhänger einer dritten Deutung meinen, ein normannisches Wappen sei überhaupt erst nach dem Ende der Normandie unter englischer Herrschaft im Jahr 1204 durch die französischen Könige eingeführt worden, die damit eine subtile symbolische Aggression gegenüber dem „Erbfeind“ verbanden.

 

Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, daß sich in Kreisen normannischer Regionalisten bis heute die Auffassung hält, daß die drei Löwen eigentlich dem „Mutterland“ gebührten und deshalb für eine entsprechende Umgestaltung der normannischen Fahne Propaganda machen. Nicht sehr erfolgreich, wie man bei jeder Fahrt durch die Normandie feststellen muß. Auch diejenigen, die auf ihre Heimat besonders stolz sind, zeigen in der Regel „les deux p‘tits cats“: „die beiden kleinen Katzen“.