Die Weiße Rose

Rekonstruktion der letzten Reichsfahne von dj.1.11, 1932 / 33
Rekonstruktion der letzten Reichsfahne von dj.1.11, 1932 / 33

Zu den Seltsamkeiten des offiziellen Gedenkens an den Widerstand der Weißen Rose gehört, daß Sophie Scholl eine ungleich größere Rolle spielt als Hans Scholl. Man mag das mit dem Fehlen anderer weiblicher Widerstandskämpfer von herausragender Bedeutung erklären oder mit dem feministischen Zeitgeist. Aber faktisch entsteht dadurch ein verzerrter Eindruck. Denn Hans Scholl war die wichtigere Figur nicht nur im Hinblick auf die Entstehung und die Aktionen der Weißen Rose, sondern auch im Hinblick auf den Einfluß, den der ältere Bruder auf die jüngere Schwester genommen hat.

 

Das galt auch im Hinblick auf den Widerstand gegen Hitlers Regime. Der lag für die Geschwister Scholl keineswegs nahe. Denn als Heranwachsende gehörten sie zu jenen, die sich – gegen den Einspruch der liberalen Eltern – vom Nationalsozialismus faszinieren ließen. Zum Ausdruck kam das auch in der Begeisterung, mit der sie Führeraufgaben in Jungvolk und Jungmädel übernahmen. Allerdings speiste sich ihre Vorstellung eines idealen und elitären nationalen Sozialismus aus anderen Quellen als den offiziell erwünschten.

 

Auch das ist ein Thema, das bei der üblichen Betrachtung entweder in den Hintergrund tritt oder gleich ganz verschwiegen wird. Denn hier wirkte eine Weltanschauung nach, die Eberhard Koebel – bekannter unter seinem Fahrtennamen „tusk“ – in seinen Schriften entwickelt hatte. Ohne Zweifel war tusk die Zentralfigur der Bündischen am Anfang der dreißiger Jahre. Ihm verdankte die Bewegung einen neuen Stil des Auftretens mit der „juja“ – der Jungenschaftsjacke -, dem Lager, der Kohte – eigentlich einem Nomadenzelt –, der Gestaltung ihrer Fahnen, Abzeichen und Druckwerke und der Orientierung an exotischen Heroen wie dem Kosaken oder dem Samurai.

An einer Stelle in tusks noch 1933 veröffentlichter Heldenfibel hieß es: „Die alten japanischen Waffenträger geben uns das Vorbild.“ Und einen großen Teil des Buches nahm die Überlieferung von den legendären siebenundvierzig Ronin ein, die unter allen Umständen ihren getöteten Herrn rächen wollten, wissend, daß sie im Fall des Gelingens gezwungen wären, seppuku – rituelle Selbsttötung durch Bauchaufschlitzen - zu begehen, um ihre Ehre zu wahren.

 

Es ist gut belegt, daß Hans Scholl die Heldenfibel kannte. Bezeichnenderweise hat er auf den illegalen Fahrten, die er in den dreißiger Jahren mit dem engeren Kreis seiner Gefolgschaft unternahm, Lesungen aus ihren Texten gehalten. Aber vielleicht spielte die Heldenfibel und das dahinterstehende Gedankengut auch eine Rolle für die bis heute ungeklärte Wahl des Namens „Weiße Rose“ für den von Hans Scholl und seinem Freund Alexander Schmorell gegründeten Widerstandskreis. Denn ein entsprechendes Motiv gehörte zu dem Emblem auf dem Buchumschlag, das aus zwei gekreuzten Schwertern bestand, zwischen deren Spitzen die Silhouette eines Islandfalken, zwischen deren Griffen drei Wellen und an deren rechter Seite eine stilisierte weiße Rose zu sehen war.


Es handelte sich um die letzte Gestaltung des Abzeichens, das tusk für seinen Bund, die dj.1.11, die deutsche jungenschaft vom 1. November 1929, eingeführt hatte. Dessen Elemente fanden sich auch in der Fahne der dj.1.11, die aus einem grauen Tuch bestand, aufgelegt der Falke und die Wellen in weißer Farbe. Dabei hatte das Grau des Tuchs einen Bezug zum „Feldgrau“, also der Uniformfarbe der deutschen Soldaten des Weltkriegs, sollte aber gleichzeitig den Gedanken der Autonomie versinnbildlichen. Der Islandfalke stand für Entschlossenheit, die drei weißen Wellen vertraten die bewegten Elemente Wasser, Feuer, Luft. Hinzu kam ein schmaler roter Streifen zum Mast hin. Dessen Farbe stand für die Bereitschaft, das eigene Blut für eine edle Sache zu vergießen.

 

Die darauf angebrachten Symbole wurden mehrfach ausgewechselt: Ursprünglich fand sich dort die sogenannte „Freischarlilie“ – der Freischar als großem Zusammenschluß von Wandervögeln und Pfadfindern hatte tusk ursprünglich angehört -, dann die Speerspitze des Deutschen Pfadfinderbundes, dem tusk beigetreten war. 1931 wies die „Reichsfahne” von d.j.1.11, die in der Berliner Rotgrauen Garnison hing, an der betreffenden Stelle den Reichsadler, daneben den Adler Österreichs und die beiden Kreuze mit der Krone aus dem Wappen Danzigs als großdeutsches Bekenntnis auf. 1932 schließlich, nach der Hinwendung tusks zur asiatischen Philosophie, ersetzte man die bisherigen Zeichen durch zwei abstrakt gefaßte, weiße Rosen, die im Sinn des japanischen Zen für die betrachtende Gelassenheit stehen sollten. Der Zen bildete allerdings auch die spirituelle Grundlage des bushido, das heißt des Weges, den der Samurai geht, wie er in der Heldenfibel nachgezeichnet wurde.

 

Man sollte einen Zusammenhang mit der letzten Entscheidung der Geschwister Scholl – die Flugblätter der Weißen Rose nicht mehr nur auszulegen, sondern sie in den Lichthof der Münchener Universität zu werfen und die Festnahme zu riskieren – wenigstens in Erwägung ziehen. Das, was selbst in ihrem engeren Umfeld als „selbstmörderisch“ angesehen wurde, hatte viel von der Idee der zeichenhaften Tat, die ihren Zweck in sich selbst findet, wie sie in der Heldenfibel gefeiert wurde.